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Legenden und Visionäre

Night of Surprise verspricht unerwartete Begegnungen

Köln, 16.10.2025
FOTO: Bildquelle: Christuskirche Köln

Hier wird geforscht und weiterentwickelt, hier lebt der Klang der Gegenwart. Um möglichst viele Menschen darauf zu stoßen, ruft seit zehn Jahren die „Night of Surprise" das ästhetische Abenteuer aus. Das Konzept folgt dem bewährten Beispiel der Winterjazz-Nächte: Die ganze weite Welt der freien, aktuellen Musik, die sich beständig neu erfindet, präsentiert sich hier zum spontanen Hereinschnuppern. Mittlerweile bereichert die benachbarte Christuskirche als atmosphärischer Spielort das Festival – ihre modernistische Architektur aus dem späten 19. Jahrhundert bietet einen eindrucksvollen akustischen und visuellen Rahmen für klangliche Entdeckungen.

Was anderswo hinter Eintrittskarten und Szene-Codes verschwindet, öffnet sich in Köln für einen langen Abend der erfrischenden ästhetischen Barrierefreiheit: drei Locations, kein Investitionsrisiko, Stadt und Land fördern dieses Wagnis – immer noch.

Die internationale Prominenz ist beachtlich: Gitarrenforscher Fred Frith, Mitbegründer der Kultband Henry Cow und prägender Musiker der New-York-Downtown-Szene, tritt mit Trompeterin Liz Allbee und Klarinettist Tim Hodgkinson auf. Das bündelt Jahrzehnte avantgardistischer Erfahrung zwischen Rock-Avantgarde, freier Improvisation und komponierter Experimentalmusik. Bereits um 16 Uhr in der Christuskirche präsentiert Stian Westerhus, einer der kompromisslosesten Soundartisten auf der E-Gitarre, zusammen mit Videokünstler Frieder Weiss spektakuläre Klang-Bild-Kollisionen zwischen Noise, Drone und überwältigender Schönheit.

Richtig spannend wird die Night of Surprise aber durch alles, was sich jenseits etablierter großer Namen abspielt. Der Belgier Lukas De Clerck etwa hat den Aulos, ein antikes griechisches Blasinstrument, rekonstruiert und entwickelt daraus zeitgenössische Varianten – mikrotonale Klangforschung zwischen Archäologie und Futurismus. John McCowen & Madison Greenstone erkunden mit Kontrabassklarinette die polyphonen Möglichkeiten historisch monophoner Instrumente: Differenztöne, Schwebungen, raumbezogene Klangskulpturen.

Cloud Curation als Methode

Zum Jubiläum wagte Kurator Thomas Gläßer ein Experiment: „Cloud Curation", ein kollektiver Kuratierungsprozess aus über 150 künstlerischen Perspektiven und mehr als 400 Ideen weltweit. Gläßer, der 2006 mit anderen Musiker:innen die Plattform Zentrum für Aktuelle Musik e.V. gründete und als Sprecher der Sektion Musik im KulturNetzKöln aktiv ist, versteht Kuratieren als kulturpolitische Praxis. Mit Reihen wie „Reconstructing Song", „Reverse Exotism" oder dem Festival „Digging the Global South" lotet der zwischen Köln und Berlin lebende Programmmacher seit Jahren aus, wie zeitgenössische Musik jenseits westlicher Zentrumsperspektiven gedacht werden kann.

Das Ergebnis ist ein Programm bemerkenswerter Spannweite – von queerer brasilianischer Performance-Elektronik über die Wiederbelebung antiker Instrumente bis zu afrikanischen Clubtraditionen. Der kanadische Eric Chenaux kontrastiert sanfte Gesangslinien mit „gebratenen" Gitarrenklängen zwischen Avant-Folk und Out-Jazz. Der kenianische Produzent Slikback bringt die dunkle, bassgetriebene Energie Nairobis nach Köln. Die Italienerinnen Silvia Tarozzi & Deborah Walker verbinden zeitgenössische Techniken mit neu interpretierten Volksliedern der Reisarbeiterinnen – Musik über Liebe und Krieg, die politische Geschichten erzählt.

Intergenerationelle Begegnungen prägen den Abend: Die Horse Lords aus Baltimore treffen auf Minimalismus-Pionier Arnold Dreyblatt – psychoakustische Experimente zwischen Krautrock-Groove und mikrotonaler Stringmagie. Cara Tolmie & Rian Treanor verschmelzen körperbasierte Vokaltechnik mit algorithmisch komponierter Clubmusik. Die brasilianische Performerin Andras verbindet lateinamerikanische Sounds mit dekonstruierter Elektronik, während die Berliner Produzentin Ziúr mit roher Energie Räume der Identitätsarbeit schafft.

Kulturpolitisches Signal

Wer Klangforschung demokratisieren will, muss die Türen öffnen – buchstäblich. Wenn antike Blasinstrumente neben kenianischem Bass-Throb erklingen, wenn queere Performance auf Minimalismus-Pioniere trifft – dann wird hörbar, wie divers und lebendig die forschende musikalische Gegenwart ist. Und dafür braucht es auch mal Orte, die ihr ohne ökonomische Barrieren Raum geben.

Night of Surprise X, 18. Oktober 2025, ab 16 Uhr Christuskirche (Dorothee-Sölle-Platz 1), ab 20 Uhr Stadtgarten (Venloer Straße). Eintritt frei. Info: stadtgarten.de



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