Kreative Artenvielfalt in Duisburg
Das Zehnte Platzhirschfestival
Zum zehnten Mal und größer als je zuvor bespielt das Platzhirsch-Festival 2022 vom 26. - 28.08. die Duisburger Innenstadt. Die „kreative Artenvielfalt“ verbindet zeitgenössische Kunst, Film, Theater, Workshops und eine riesige Bandbreiteder aktuellen Musik. Auch gibt es Poetry Slam, Graffity Workshops Händlermärkte und nachhaltige Mitmachangebote für Kids. Alles frei zugänglich ohne Barrieren und ohne Eintritt. Denn auf Initiative des Kultursprung e.V. stemmt hier eine kleine Gruppe kreativer Menschen völlig ehrenamtlich ein Dreitageprogramm, das eine Reise an den Dellplatz in Duisburg zu einem besonderen Abenteuer werden lässt.
Gleichberechtigt werden zahlreiche Kulturorte der freien Szene in Duisburg mit einbezogen: Die Säule für heiße Band-Konzerte, die Sankt Josefs-Kirche für neue improvisierte Klangerfahrungen, gleich zwei Bühnen auf dem Dellplatz und in diesem Jahr auch der Duisburger Innenhafen. Dass das Programm alles andere als gefällig oder stromlinienförmig daher kommt, macht die Anziehungskraft dieses Festivals aus - oder nennen wir es gleich die überregionale künstlerische Ausstrahlung, mit der Platzhirsch viel mehr als nur ein „lokales“ Ereignis ist.
Ein Streifzug durch die musikalischen Programmpunkte (alles ist komplett auf der website nachlesbar) spricht für sich: Die Cellistin Tomeka Reid, aktuelle improviser in residence beim Moers-Festival, bringt ein eigenes New Yorker Trio mit zum Platzhirsch, wobei es aber eine kurzfristige Umbesetzung gab. Für die Violinistin Jean Cook springt die renommierte Wuppertaler Improvisationsmusikerin Gunda Gottschalk ein.
„Station 17“ sind nicht einfach nur eine Krautrock-Band. Gegründet 1989 geht dieses Projekt aus einer Hamburger Wohngruppe für geistig behinderte Menschen hervor. Einem großen Publikum wurde Station 17 durch Auftritte beim Moers-Festival bekannt. Die kreativen Energien der Band um ihren Initiator Kai Boyen sind bis heute nicht versiegt, wovon man sich auf der Zeltbühne am Dellplatz überzeugen kann.
Telepathisch soll es zugehen bei den elektro-akustischen Improvisationen der Band Empire – bestehend aus Julia Brüssel , Violine, Elektronik, Korhan Erel, Elektronik und Thorsten Töpp, Gitarre Elektronik – visuell werden sie vom Krefelder Bildkünstler Malte Jehmlich unterstützt.
Warum sind Roboter eigentlich primär männlich konnotiert? „Die Roboterinnen“ heißt ein neues elektroakustisches Musiktheater vom Kollektin "Oper, Skepsis und Gleisbau", das seine Uraufführung in die Sankt Josefs Kirche erlebt. Vocoder-Stimmen treffen auf elektronische Klänge, die manchmal aus „historischen Rundfunkversuchsapparaturen“ kommen.
Bis nach Zentralasien reicht das künstlerische Spektrum beim Platzhirsch-Festival: Aus Tuva, einer autonomen Republik in Russland kommt die mystische Stimmakrobatin Saincho Namchilak – sie ist eine echte Pionierin der freien Improvisation mit Stimme, ebenso wohl die erste weibliche Throat Singing/bzs. Obertongesang-Artistin und eine engagierte Botschafterin für globale kulturelle Toleranz. Ihr Partnerbeim Platzhirsch-Festival ist der belgische Musiker, Komponist und Instrumentenbauer Jochem Baelus, der sich vor allem auf hypnotischen Krautrock und Post-Punk versteht.
Der Charme beim Platzhirsch resultiert aus den Gegensätzen: Doom Metal ist das bevorzugte Terrain der belgischen Band WYATT E.: Auf der Zeltbühne auf dem Dellplatz mischen sich dröhnende Klanglandschaften mit nahöstlicher Instrumentierung. Das sind optimale Bedigungen für eine „dunkel-mystische Reise in die Vergangenheit, zu vergessenen Städten, Klängen und verlorenen Kulturen”. Heftig geht es bei den „Friends of Gas“zur Sache. Extrem ist allein schon der Gesang von Nina Walserund angeufeuert von ebenso krassen Noise-Soundgewittern. „Kapital oder Kapitulieren?“ lautet die revolutionäre Frage auf der Dorfbühne auf dem Dellplatz kommen. Klangbiotope zwischen Abstraktion und Schönheit entstehen in der Säule, wenn die Band h i l d egleichermaßen instrumental wie vokal improvisiert. Die vier Ausnahmemusikerinnen sind allesamt Mitglieder beim The Dorf & Umland Kollektiv.
Nicht fehlen darf beim Duisburger Platzhirsch-Festival die brasilianische Schlagzeugerin und Perkussionskünstlerin Maria Portugal, welche in der Ruhrgebietsstadt ihre Wahlheimat gefunden hat. Dieses Jahr bringt sie das Klangkunst-Kollektiv Recursion mit in die Sankt Josefs Kirche.
Der Hamburger Knarf Rellöm ist aufs intensivste mit dem jüngeren Duisburger Nachtleben verbunden. Seine Konzerte unter wechselnden Namensvariationen (und fast immer mit DJ Patex an seiner Seite) sind Party pur und wollen im Rahmen des Knarf Rellöm Arkestra beweisen, dass Groove und kritische Haltung sich nicht gegenseitig ausschließen.
Leider nicht zu ändern: Der bereits gebuchte Trompter Markus Stockhausen musste leider krankheitsbedingt absagen. Damit wird das Projekt METAR, welches in Kooperation mit dem Lokal Harmonie im Dortmunder Innenhafen stattfindet, zur Duobegegung. Hier trifft der norwegische Gitarren-Klangmagier Eivind Aarset auf den Lapsteel-Virtuosen Werner e Chee. Das ganze ist übrigens als dreistündige (!) konzertante Klangimprovisation beim Ludwigforum am Innenhafen konzipiert.
Soweit nur einige Appetitanreger in einem noch viel umfangreicheren Gesamtprogramm. Nicht unerwähnt darf noch bleiben, dass das Zehnte Platzhirsch-Festival mit The Dorf, dem nimmermüden, improvisierenden Szene-Kollektiv im Ruhrgebiet zu Ende geht.
Neben Musik gibt es ein reichhaltiges Programm aus Kunstaktionen, Ausstellungen sowie einem extraordinären Filmprojekt, nämlich dem Autokino Oink! In Kooperation mit Videocity Basel.
Das OINK! zeigt aus der Heckklappe eines Fahrzeugs heraus Kurzfilme, die zum Beispiel die Beschäftigung mit Nahrung aus einer etwas anderen, künstlerischen Perspektive erfahrbar machen.