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Farewell Theo Jörgensmann

Nachruf auf einen Erneuerer

Bottrop, 08.10.2025
FOTO: Herbert Weisrock, Bildquelle: Wikipedia

Er war ein Spätberufener, ein Quereinsteiger, einer, der die Umwege zum Prinzip erhob. Theo Jörgensmann, der am 6. Oktober 2025 im Alter von 77 Jahren starb, begann erst mit 18 Jahren Klarinette zu spielen – ein ungewöhnlich spätes Einstiegsalter für jemanden, der später zu den wichtigsten europäischen Vertretern seines Instruments werden sollte. Doch gerade dieser Umweg prägte seine Haltung zur Musik: nichts Selbstverständliches, alles Erarbeitetes.

Geboren am 29. September 1948 in Bottrop, wuchs Jörgensmann in der Gaststube seines Vaters auf, einem jener Lokale, wie sie das Ruhrgebiet prägten. Die Anekdote, dass er sich als Kind gerne unter den Tischen aufhielt, um von dort aus die Gäste zu beobachten, lässt sich als Parabel lesen: Von unten nach oben schauen, die Perspektive wechseln, zuhören – das blieb sein Prinzip. Zunächst arbeitete er als Chemielaborant, leistete anderthalb Jahre Wehrdienst, arbeitete mit behinderten Kindern und begann ein Studium der Sozialpädagogik, bevor er 1975 den Sprung ins Berufsmusikertum wagte. „Ich war wahrscheinlich der erste professionelle Jazzmusiker des Ruhrgebiets", sagte er später in einem Interview. Eine Region, die damals noch keine Jazzszene hatte, keine Clubs, keine Infrastruktur – Jörgensmann musste nach Süddeutschland fahren, um spielen zu können.

Er machte die Klarinette zum Experimentierfeld

Was ihn auszeichnete, war die Verbindung von intellektueller Reflexion und emotionaler Präsenz. Sein Spiel changierte zwischen strenger Form und expressiver Freiheit, zwischen lyrischer Versenkung und radikaler Klangforschung. Während die Klarinette im Jazz der Nachkriegszeit zunehmend in die Defensive geriet – verdrängt vom Saxophon, das mehr Lautstärke, mehr Präsenz versprach –, machte Jörgensmann das vermeintlich Altmodische zum Experimentierfeld. In den 1970er Jahren spielte er elektrisch verstärkte Klarinette in der Jazz-Rock-Formation Out, später widmete er sich der freien Improvisation und wurde Mitbegründer des Contact Trio sowie Teil von Clarinet Contrast, einem Klarinetten-Pool, der die Möglichkeiten des Instruments systematisch auslotete. Von 1975 bis 1977 leitete er Clarinet Contrast mit Perry Robinson, Hans Kumpf, Bernd Konrad und Michel Pilz – eine Formation ausschließlich aus Klarinetten, die Ende der 1970er Jahre zu einer der bekanntesten Jazzgruppen Westdeutschlands wurde.

Sein künstlerisches Netzwerk war beeindruckend und international: Zusammenarbeiten mit Barre Phillips, Kenny Wheeler, Charlie Mariano, Lee Konitz, später mit Shabaka Hutchings und Christopher Dell zeugten von seiner Offenheit für unterschiedliche Generationen und Stile. Mit Georg Graewe gründete er das Grubenklangorchester, mit Eckard Koltermann bildete er das Duo German Clarinet Sound – Projekte, die immer auch den Diskurs über die Strukturen improvisierter Musik führten. Jörgensmann war Mitbegründer der Neuen Organisation Musik (NOM) in Essen, die in den 1980er und 1990er Jahren zur wichtigen Schnittstelle der westdeutschen Free-Jazz-Szene wurde.

Klang als soziale und politische Kategorie 

Besonders seine Soloaufnahmen bleiben als Vermächtnis. Nur wenige Klarinettisten wagten sich in diese radikale Einsamkeit, in der jeder Ton, jede Pause hörbar wird. Jörgensmanns Solokonzerte waren philosophische Akte – nicht Selbstdarstellung, sondern Suche nach den Bedingungen von Klang, Stille, Gegenwart. In seinem Buch „Kleine Ethik der Improvisation" (gemeinsam mit Rolf-Dieter Weyer) formulierte er die theoretische Grundlage dieser Praxis: Improvisation nicht als bloße Technik, sondern als existenzielle Haltung.

1997 verließ Jörgensmann das Ruhrgebiet und zog nach Brüel in Mecklenburg-Vorpommern – ein Ort der Abgeschiedenheit, fern von urbanen Zentren. Die Geschichten seiner ostpreußischen Verwandten in der Bottroper Familienküche hatten ihm die Weite dieser Landschaft vorgeprägt. Auch hier blieb er produktiv: Er gründete das Theo Jörgensmann Quartet, mit dem er 1999, 2001 und 2003 durch die USA und Kanada tourte, spielte zweimal beim Montreal International Jazz Festival und arbeitete ab 2003 intensiv mit den polnischen Zwillingen Marcin und Bartłomiej Oleś zusammen – ihr Album „Directions" wurde 2005 vom polnischen Jazz-Magazin Diapason zur Platte des Jahres gewählt. Seine interdisziplinären Arbeiten – mit Dichtern, Schauspielern, bildenden Künstlern – zeugten von einem erweiterten Musikbegriff, der Klang immer auch als soziale und politische Kategorie verstand. 2018 war er Artist in Residence beim Singers Festival Warsaw, dem größten Festival jüdischer Kultur in Polen.

Späte Rückkehr in die Heimat 

2018 erhielt er den „Jazz Pott" des Kulturzentrums Zeche Carl in Essen – eine späte Rückkehr in die Heimat, symbolisch und real. Doch Anerkennung war nie sein Antrieb. „Ich werde erst dann aufhören, wenn ich merke, dass die Kraft nachlässt", sagte er 2019. Die Intensität halten zu können – das war sein Maßstab. Mit Theo Jörgensmann ist eine Stimme verstummt, die nie laut sein musste, um gehört zu werden. Seine Musik bleibt als Denkwerkzeug: für all jene, die nicht an Rezepten, sondern an Fragen interessiert sind.

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