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Die Stille vor dem Sturm

Preview Moers Festival vom 6. bis 9. Juni 2025

Moers, 05.06.2025
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Bildquelle: Website Moers Festival

Es ist schon eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet eines der klangvollsten Festivals im Lande dem Thema "Stille" gewidmet ist. Doch wer Tim Isfort und sein Team kennt, weiß: Paradoxien sind beim Moers Festival Programm. Seit 54 Jahren trotzt diese eigenwillige Veranstaltung den Marktgesetzen des Kulturbetriebs – und wird gerade deshalb zu einem kostbaren Gut in einer Welt zwischen Algorithmus-Pop und Nostalgie-Recycling. Die Pressekonferenz Ende März gab bereits den Ton an: In 30 Metern Höhe, auf Hebebühnen in drei Kränen, erklärten Isfort und sein Team das diesjährige Konzept. Eine schwindelerregende Metapher für die schwankende Finanzlage des Festival oder doch lieber Sinnbild für dessen künstlerischen Höhenflug? Wie auch immer: Wenn Moers auf allen Kanälen den Sprung ins Ungewisse wagt, wird letztlich immer wieder auf beiden Beinen gelandet. 

250 Künstler*innen aus 20 Nationen, vier Tage – konzentriert auf wenige Hauptspielorte: Die Festivalhalle ("In der Halle") und die Outdoor-Bühne "Unter Bäumen" bilden das Herzstück, "Auf'm Platz" und "Über'm Platz" sorgen für Bewegung. Doch es gibt weitere Zwischenräume, damit sich die Stille entfalten kann: Die evangelische Stadtkirche wird zur Kathedrale der Avantgarde, "moersify" erobert mit seinem Nomadentum die Stadt, und sogar das Büro des Bürgermeisters wird zur intimen Konzertbühne, wenn dort Haydn Chisholm zum improvisierten Ständchen aufspielt.

In Zeiten, in denen Stille zum Luxusgut geworden ist, wird sie in Moers zum künstlerischen Statement – dabei hilft der diesjährige Länderschwerpunkt: Das chinesische Partnerland bringt eine jahrtausendealte Tradition der klanglichen Meditation mit. Zhao Cong verwandelt alltägliche Objekte in Klang, Zhu Wenbo führt Klarinette und Tapes zu überraschenden Dialogen. Sun Yizhou experimentiert mit Feedback, und das Duo bBb bBb (Li Daiguo & Lao Dan) präsentiert "free improvisational ethnic music" – eine Begegnung zwischen Duduk, Pipa, Guzheng und westlichen Instrumenten.

Stille vs Anti-Stille

Die Generationenspanne des diesjährigen Moers-Lineups ist beachtlich: Während der 83-jährige Wadada Leo Smith als lebende Legende des Creative Jazz mit Vijay Iyer ihr bewegendes neues Album "Defiant Life" präsentiert – eine musikalische Meditation über menschliches Leid und die Kraft der Hoffnung –, zeigt der japanische Tausendsassa Koshiro Hino mit zwei Auftritten seine visionären Klangwelten. Seine "Chronograffiti" für drei Perkussionisten ist eine Festivalpremiere, sein "SO-TEN-I (Phase Transition)" beschließt als nächtlicher Höhepunkt das Festival.

Dass Caspar Brötzmann, Sohn des Free-Jazz-Titanen Peter Brötzmann, mit seinem legendären "Massaker" für die wohl lauteste Anti-Stille des Festivals sorgt, ist nur konsequent. Sein Auftritt am Montagabend verspricht bewährte Kollisionen zwischen experimentellem Rock mit Industrial- und Avantgarde-Elementen, der die Grenzen zwischen Komposition und kontrollierter Zerstörung auslotet. Die internationale Dimension des Festivals zeigt sich im Aufeinandertreffen diverser Welten: URWEREKA aus Kigali bringt vier Künstler*innen zusammen – die Poetin Natacha "Miziguruka" Muziramakenga, Klangkünstlerin Binghi sowie die Tänzer Bobo Elvis und Manzi Mbaya. Ihre interdisziplinäre Performance steht im direkten Dialog mit den Studierenden der Kunsthochschule für Medien Köln, die in ihrer "soft rotation"-Reihe über alle vier Tage verteilt mit Acts wie Duhyoung Kim, Jeesoo Hong oder dem kollektiven Projekt "Oort" die Grenzen zwischen akademischer Ausbildung und künstlerischem Experiment erkunden.

Internationale Größen entfalten ihr Können: Die britisch-italienische Formation POTENTE (Mariam Rezaei und Gabriele Mitelli) trifft auf das südafrikanische Duo Nduduzo Makhathini & Omagugu mit ihren "Zulu Love Songs", während Led Bib aus Manchester nach 20-jähriger Bandgeschichte ihre gereiften Klangvisionen präsentieren.

Dass ausgerechnet in der evangelischen Stadtkirche Moers einige der experimentellsten Konzerte stattfinden, ist mehr als praktische Raumnutzung. Ellen Arkbro aus Schweden lässt ihre "Nightclouds" auf der Solo-Orgel erklingen, Maya Dunietz präsentiert sowohl ein Orgel-Solo als auch ihr "Sax for Peace"-Projekt, und das monumentale "Temple of Electryone" von William Nortlich-Redmond verwandelt den sakralen Raum mit bis zu 20 Musiker*innen des Festival-Ensembles in ein überwältigendes Klangerlebnis.

Freysinn als Programm

Das Konzept der "Freysinn"-Sessions, bei dem Festivalmusikerinnen spontan und selbstorganisiert die Bühne übernehmen können, durchzieht alle vier Tage mit zehn Sessions. Das ist Demokratisierung der Kunst in Reinform und spiegelt den Geist eines Festivals wider, das nie aufgehört hat, an die transformative Kraft der Musik zu glauben. Parallel dazu bieten die vier "moers session!"-Termine strukturierte Improvisationsgelegenheiten für Musikerinnen verschiedener Welten.

Die "moersify"-Reihe mit Überraschungsauftritten im Moerser öffentlichen Raum zeigt die ganze Bandbreite des Festivals: Mal intim in der Haarschneiderei mit Lao Dan solo, mal diskursiv in der Barbara Buchhandlung mit "The Sound Of Silence"-Diskussion, mal literarisch mit "Hüsch! 2025!" – einer Hommage an den großen niederrheinischen Poeten Hanns Dieter Hüsch. Von der Villa Wölkchen über das Café Mondrian bis hin zum Skate & Bikepark erobert das Festival jeden Winkel der Stadt.

Begegnungen zwischen etablierten Formen und radikaler Erneuerung zeigen sich in einem ambitionierten Projekt: Das Bundesjazzorchester präsentiert mit "Irgendwo auf der Welt..." Musik aus NS-Entschädigungsakten verfolgter Komponisten, während "Kapustin revisited" eine künstlerische Stellungnahme zur Musik des 2020 verstorbenen ukrainischen Komponisten darstellt. Multiple Voices wagen sich an Thomas Tallis' monumentales "Spem in Alium" von 1570 – mit nur zwei Sängern, die mithilfe von Live-Elektronik ab Freitagnachmittag ein fünfstündiges meditatives Spektakel in der Halle erklingen lassen.

Die Nacht gehört den Mutigen

Die Spätprogramme versprechen besondere Intensität: Marco Fusinatos "Deleterious exhalation" aus Australien erforscht die Grenzen zwischen Musik und visueller Kunst, während "random expectation" – ein Begegnungsprojekt zwischen chinesischen und deutschen Musikern – verschiedenste klangliche Welten verschmelzen lässt. Holy Scum aus Manchester/USA bringen ihre Mischung aus Sludge, Noise und improvisiertem Rock, und YPY verwandelt den Skate & Bikepark in eine elektronische Traumlandschaft. Dass auch die jüngsten Festivalbesucher*innen nicht vergessen werden, zeigt der durchgängige Bereich "Wo die wilden Kinder wohnen" – ein Ort, an dem Lachen, Freude und Freiheit im Mittelpunkt stehen. Parallel dazu lädt das Jugendprojekt "...plötzlich still im Unimoersum?" zur aktiven Teilnahme ein.

Von der Strandbar 1924 mit ihren entspannteren Ghost Dogs über die intensive Klangforschung in St. Josef bis hin zu den nächtlichen DJ-Sets in "Die Röhre" – das Moers Festival 2025 verspricht eine Neudefinition dessen, was Musik in unserer lärmenden Zeit leisten kann. Die "discussions!"-Reihe bringt den intellektuellen Diskurs mit Themen wie "Kunst, Kritik oder Antisemitismus?" oder der Kooperation mit dem britischen Huddersfield Contemporary Music Festival. Diese Partnerschaft mit Großbritanniens größtem Festival für experimentelle Musik zeigt: Moers denkt international, aber handelt lokal.

In einer Zeit, in der Stille Widerstand bedeutet, wird das Moers Festival zu einem Akt des zivilen Ungehorsams. Nur eben mit sehr guten Lautsprechern, die von "Unter Bäumen" bis zur Kirchenorgel, vom Büro des Bürgermeisters bis zum Skate & Bikepark das ganze Spektrum menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten abdecken. Das Festival beweist: Avantgarde ist keine Elitensache, sondern ein Grundbedürfnis. Sie braucht nur den Mut zur Stille – und die Bereitschaft, in dieser Stille das Unerhörte zu entdecken.

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