Bewegung im Klang
Eine Hommage an Luciano Berio zum 100. Geburtstag
FOTO: Matthias Bruns
Er wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden: Luciano Berio, einer der großen Erneuerer der Musik des 20. Jahrhunderts. Die renommierte WDR-Konzertreihe „Musik der Zeit" widmet dem italienischen Komponisten zwei besondere Abende in Köln und Essen – mit Werken, die Stillstand in Bewegung verwandeln und Zeit zum Klingen bringen. Am 7. November um 20 Uhr in der Kölner Philharmonie und einen Tag später um 19 Uhr in der Essener Philharmonie stehen nicht nur Berios faszinierende Klangvisionen im Mittelpunkt. Drei zeitgenössische Komponisten – Stefano Gervasoni, Mirela Ivičević und Mikel Urquiza – treten mit dem Meister der Avantgarde in einen Dialog über Generationen hinweg.
Wenn Unruhe zur Musik wird
„Ein Stück, bei dem sich im Inneren einer gleichförmigen Tonreihe von bestimmtem Charakter ganz allmählich Unruhe ausbreitet" – so beschrieb Luciano Berio selbst sein Orchesterwerk „Bewegung" aus dem Jahr 1971. Was zunächst paradox klingt, wird unter der Leitung von Dirigent Patrick Hahn zum Hörerlebnis: In einem Zustand „aufgehobener Zeit" entsteht ein faszinierendes Bild von Bewegung, ein klanglich-philosophisches Meisterwerk, das auch mehr als 50 Jahre nach seiner Entstehung nichts von seiner Kraft verloren hat. Der 24. Oktober 2025 wäre Berios 100. Geburtstag gewesen. Die traditionsreiche Uraufführungsreihe des WDR, die seit 1951 ein Forum für zeitgenössisches Komponieren bietet, nimmt dieses Jubiläum zum Anlass für eine programmatische Hommage, die zeigt: Berios Fragen sind auch heute noch aktuell.
Stille hörbar machen
Stefano Gervasoni, italienischer Komponist und selbst ein Schüler der Generation nach Berio, präsentiert mit „TACET" eine deutsche Erstaufführung. Der Titel ist Programm: Das lateinische „tacet" bedeutet „es schweigt". Doch bei Gervasoni wird die Stille nicht zur Abwesenheit von Klang, sondern zu dessen subtilster Form. In einem gleichberechtigten Dialog zwischen der Solovioline von Ilya Gringolts – einem der gefragtesten Virtuosen unserer Zeit – und dem WDR Sinfonieorchester entsteht eine „Klangfülle der Stille", ein Paradox, das erst im Hören seine volle Bedeutung entfaltet.
Vom schwarzen Mond zur maßlosen Freundschaft
Mirela Ivičević führt das Publikum mit „BLACK MOON LILITH" (2019/21) in mythische Sphären. Der schwarze Mond Lilith – in der Astrologie ein Punkt höchster emotionaler Intensität – inspirierte die Komponistin zu einem Werk, das zwischen kosmischer Weite und irdischer Leidenschaft oszilliert.
Mikel Urquiza wiederum reflektiert in seiner Uraufführung „UN DÉSIR DÉMESURÉ D'AMITIÉ" (2025) – zu Deutsch: „Ein maßloses Verlangen nach Freundschaft" – das Spannungsfeld zwischen Opposition und Integration. Das virtuose Trio Catch tritt dabei als Widmungsträger in einen vielschichtigen Dialog mit dem großen Klangkörper des WDR Sinfonieorchesters. Wie verhalten sich das Individuelle und das Kollektive zueinander? Wo liegt die Balance zwischen Autonomie und Gemeinschaft? Fragen, die auch Berio zeitlebens beschäftigten.
Eine Tradition seit 1951
„Musik der Zeit" ist mehr als eine Konzertreihe – sie ist ein lebendiges Archiv des musikalischen Denkens seit der Nachkriegszeit. 1951, kurz nach der Eröffnung des Großen Sendesaals im Funkhaus Wallrafplatz, gründete der WDR dieses Forum für zeitgenössische Musik. Igor Strawinsky höchstpersönlich stand beim Eröffnungskonzert am 8. Oktober 1951 am Dirigentenpult – ein symbolischer Start für eine Reihe, die bis heute zu den wichtigsten Plattformen für Neue Musik in Deutschland zählt. Seitdem hat „Musik der Zeit" unzähligen Komponistinnen und Komponisten die Möglichkeit gegeben, ihre Perspektive auf die Gegenwart mit dem Publikum zu teilen. Jede Zeit hat ihren Sound – und diese Konzertreihe macht ihn hörbar.
Live erleben – im Saal und am Radio
Die beiden Konzerte bieten eine seltene Gelegenheit, die große Vielfalt zeitgenössischen Komponierens in all ihren Facetten zu erleben: vom sinfonischen Orchesterstück bis zur intimen Kammermusikgeste, von der mathematisch-konstruktiven Präzision bis zur emotionalen Unmittelbarkeit.
Wer nicht live dabei sein kann: WDR 3 überträgt das Kölner Konzert am 7. November ab 20.03 Uhr im Radio. Moderatorin Kornelia Bittmann führt durch den Abend.
Termine:
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Freitag, 7. November, 20 Uhr – Kölner Philharmonie
Live auf WDR 3 Konzert ab 20.03 Uhr -
Samstag, 8. November, 19 Uhr – Philharmonie Essen
Programm:
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Luciano Berio: Bewegung (1971)
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Stefano Gervasoni: Tacet (2025) – Deutsche Erstaufführung
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Mirela Ivičević: Black Moon Lilith (2019/21)
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Mikel Urquiza: Un désir démesuré d'amitié (2025) – Uraufführung
Mit: Ilya Gringolts (Violine), Trio Catch, WDR Sinfonieorchester
Leitung: Patrick Hahn
Moderation (Radio): Kornelia Bittmann | Redaktion: Simon Al-Odeh
Info: Karten und weitere Informationen unter wdr.de/sinfonieorchester
