Sonntagsreden und Montagskürzungen
Essen lässt die freie Kultur im Stich
TEXT: Stefan Pieper |
Im Juli traf sich die freie Kulturszene Essens in der Zeche Carl zum Kulturempfang. Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) verkündete Großes: Die Förderung der freien Träger solle bis 2030 verdoppelt werden – auf bis zu eine Million Euro pro Jahr, wie die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) berichtete. Kultur sei wichtig für den demokratischen Diskurs und die Lebensqualität der Stadt, so Kufen.
Keine sechs Monate später ist davon nichts übrig. Wie die WAZ am 4. Dezember berichtete, kann nur noch ein Viertel der für 2026 geplanten Projektfördermittel ausgezahlt werden. 100.000 Euro bewilligt, 468.000 Euro beantragt. Mehr als 50 Antragsteller gehen leer aus. Begründung: das städtische Defizit von 123 Millionen Euro. So viel also zur Sonntagslyrik von Kultur als Kitt der Gesellschaft.
Grünen-Politikerin Tabea Buddeberg nannte die Kürzungen im Kulturausschuss „empörend und fatal", wie die WAZ dokumentierte. Ihr Fraktionskollege Stephan Neumann rechnete vor: Die eingesparten 100.000 Euro sind weniger als 0,1 Prozent des Defizits. Dem Haushalt hilft das nicht, der Szene schadet es enorm. Denn bei den Projektförderungen geht es oft um Kleinbeträge: ein paar hundert Euro für eine Lesung, eintausend für eine Ausstellung. Für die Stadt Peanuts, für Kulturschaffende existenziell. Oft reicht ein kleiner Zuschuss, um weitere Förderer zu überzeugen oder die Raummiete zu stemmen. Fällt er weg, kollabiert das ganze Projekt. Die Stadt spart Summen, für die anderswo kein Beratertag zu haben wäre – und killt damit Projekte, die ein Vielfaches an kulturellem Mehrwert erzeugen. Neumann warnte laut WAZ: „Wir werden die kulturelle Szene komplett abschmieren lassen." Linken-Politikerin Heike Kretschmer sprach von „Kahlschlag".
Das grosse Schulterzucken
Der Rotstift trifft nicht die prestigeträchtigen Leuchtturmprojekte, sondern die freie Szene – also genau jene, die unter prekären Bedingungen arbeiten und jüngeren, nicht hochkulturaffinen Menschen Kulturerlebnisse ermöglichen. Hanna Fink vom Kulturbeirat brachte den Widerspruch laut WAZ auf den Punkt: Die Stadt bewirbt sich als „Capital City of Design" – aber wer soll das mit Leben füllen, „wenn die Szene so kaputtgespart wird"? Bei CDU und SPD löste die Vorlage laut WAZ „deutlich weniger Bedenken" aus. SPD-Mann Michael Manderscheid fand die Debatte „wenig zielführend", gab aber immerhin zu: „Wenn der OB ein Versprechen macht, das der Kämmerer dann einkassiert, enthüllt das schon ein bestimmtes Bild." CDU-Kulturpolitiker Plarent Kazani empfahl schlicht „Zurückhaltung".
Kulturdezernent Muchtar Al Ghusain vertröstete auf den Doppelhaushalt 2027/28. Für viele Projekte kommt das zu spät, warnte Hanna Fink: Abgesagte Veranstaltungen lassen sich nicht einfach wieder aufsetzen. Künstler sind weg, Locations vergeben, Netzwerke zerfallen.
Im toten Winkel
Dass diese Geschichte hier überhaupt erzählt werden kann, verdankt sie der WAZ-Recherche. Für die meisten Bürger verschwindet sie hinter der Paywall. Über Bundespolitik berichten Dutzende Medien, über Essens Kulturausschuss nur die Lokalzeitung. Wer kein Abo hat, erfährt nichts. Der Widerspruch zwischen Juli-Versprechen und Dezember-Kürzung existiert für die meisten Essener schlicht nicht. Kommunalpolitik ist zum toten Winkel der Demokratie geworden. Wer soll einen OB an seine Versprechen erinnern, wenn niemand mitbekommen hat, dass er welche gemacht hat? Was bleibt: Der OB versprach eine Verdoppelung, geliefert wurde eine Kürzung. Die 50 Kulturschaffenden, deren Projekte jetzt platzen, werden sich fragen, warum sie in einer Stadt bleiben sollen, die Kultur beklatscht, aber nicht bezahlt – nicht einmal mit Beträgen, die haushälterisch irrelevant sind, für die Szene aber alles bedeuten. Kultur bleibt eine Restgröße: gelobt, wenn es nichts kostet, gestrichen, sobald gespart wird. Die freie Szene ist das schwächste Glied. Und das erste, das reißt.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), Ausgabe Essen, 4. Dezember 2025
