Klang der Unbeugsamkeit
Memento Odesa in der Christuskirche
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Sebastian Studnitzkys Projekt „Memento Odesa" führte sein Jazz-Trio mit dem Kammerorchester der Odesa Philharmonie zusammen – 20 ukrainische Musikerinnen, deren Männer das Land nicht verlassen dürfen. Was vordergründig als musikalische Begegnung zwischen Jazz und Klassik konnotiert war, wurde in der Bochumer Christuskirche zu einem Abend, der Gesichter sichtbar und Emotionen hörbar machte, bevor sie zur Nachrichtenmeldung werden. Im Sommer 2023 war Studnitzky mit einem Koffer voller Equipment nach Odesa gereist, um in der Philharmonie der Stadt Aufnahmen zu machen – zwischen Sirenenalarm und nächtlicher Ausgangssperre. Zwei Wochen nach den Sessions schlug eine Rakete in die Kathedrale ein, unweit der Philharmonie. „Wir kamen da an und es war Alltag", sagt Studnitzky über jene Tage. „Odesa ist eine wahnsinnig schöne Stadt, die Sonne hat geschienen, man hat ständig vergessen, dass Krieg ist. Und abends gingen die Sirenen los."
Schon vor einem Jahr war diese Aufführung in ähnlicher Form über die Bühne gegangen. Ein Jahr später ist alles immer noch unverändert, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nach wie vor an, bald schon vier Jahre mittlerweile. Derweil sind es etwa 35 Konzerte, die im Rahmen von „Memento Odesa" zusammengekommen sind. Atmosphärisch beginnt die Musik, deren Klang sich transparent im Bochumer Kirchenraum ausbreitet. Eine melancholisch-schlichte Ouvertüre mündet in den Titelsong „Memento", getragen von einem schwermütigen Streicherteppich. Was haben diese Musikerinnen für eine kultivierte, ausbalancierte Klangkultur – das allein zeugt von höchstem instrumentalen Können und tiefem emotionalen Konsens! Wirkungsvoll gesetzte Harmoniewechsel durchmessen eine subtile Gefühlsskala. Studnitzkys Jazz-Trio, das organisch mit dem Kammerorchester verwachsen ist, fügt sich hier nahtlos ein. Ja, auch diese Durchlässigkeit, mit der Combo und Orchester ein feinnerviges Ganzes bilden, hat Ausnahmecharakter.
An diesem Gelingen hat Dirigent Volodymyr Dikiy entscheidenden Anteil. Mit zupackender Präzision führt er die Musikerinnen durch die Übergänge zwischen sinfonischer Ausbreitung und kammermusikalischer Konzentration – klare Gestik, unaufdringliche Autorität. Auch auf den Berliner Musiker Studnitzky, der sich in der Christuskirche nie eitel in den Vordergrund spielt, ist Verlass. Seine leichtfüßige Anschlagsfinesse wird unmittelbar vom feinsinnigen Schlagzeug- und Percussion-Spiel Bodek Jankes beantwortet, der ein ausgeprägtes Gespür für feinste dynamische Regungen der großen Besetzung demonstriert – auch dahinter steht große Kunst und tiefe Einfühlung in den Moment.
Stolz und Lebenskraft
Dann kommt Sängerin Anastasiia Pokaz auf die Bühne, greift zum Mikrofon, redet erstmal ausführlich auf Ukrainisch, endet mehrmals mit einem beifällig aufgenommenen „Slava Ukraini". Ukrainisch sind auh die Songs, die ihr Studnitzky für dieses Projekt auf den Leib komponierte. Was für eine Ausstrahlung: In ihrer Stimme, in ihrer ganzen Haltung liegen Stolz und ungebrochene Lebenskraft. Eine Energie, die sich nicht kleinkriegen lässt – und die diesem Abend bei aller Schwere etwas Hoffnungsvolles gibt.
Eine Übersetzung des Gesagten wäre wünschenswert gewesen – doch ein beträchtlicher Teil der Anwesenden versteht es auch so, war doch der Anteil an ukrainischem Publikum in der Christuskirche immens. Das passte zur Programmatik dieses Spielortes, der seine Mission als Kirche der Kulturen ernst nimmt: nämlich, sich immer wieder unterschiedlichen Gemeinschaften und Kulturmilieus zu öffnen. Kein Zufall, dass sich die Bochumer Kirche „Am Platz des europäischen Versprechens" befindet? Studnitzky erläutert viele Hintergründe, nicht nur von über 40-stündigen Busfahrten, die manchmal auch unter Beschuss stattgefunden haben. Anastasiia Pokaz, die aus Odesa stammt und deren Familie dort lebt, war es, die als Kreativproduzentin die entscheidenden Kontakte zur Musikszene der Stadt herstellte.
Das Programm in der Christuskirche folgte weitgehend dem im November erschienenen Album „Memento Odesa", das Aufnahmen aus der menschenleeren Philharmonie in Odesa mit Live-Mitschnitten aus Berlin vereint. Dazu kam ein neuer Song aus dem aktuellen Werk „Ky!", das soeben erschienen ist. Der intensive Spannungsbogen verdichtete sich immer mehr über die beiden langen Sets. Weiterhin wechselten Songs auf Ukrainisch mit suggestiven, fast rockigen Instrumentalstücken, in denen vor allem die dunklen Klangschichten der Streicher hypnotisierten. Das lässt unmittelbar erfahren, was Studnitzky auch selber über seine Empfindungen bei der Arbeit mit diesem Orchester sagt: „Man spürt diese Energie, die sich aus ganz vielen Ebenen zusammensetzt." Wenn der Berliner Musiker sich solistisch einmischt, hat er Substanzielles zu bieten – als Pianist wie auch als beredt aufspielender Trompeten-Solist. Diese Doppelbegabung live zu demonstrieren, hat etwas Imposantes. Doch das Imposanteste an diesem Abend blieb das Kollektiv: Ein leidenschaftlich motiviertes Orchester, das aus dem Krieg hierher gereist ist und mit jedem Ton beweist, dass Kultur keine Flucht vor der Realität ist – sondern eine Form, ihr standzuhalten.
Weitere Aufführungen: 3. Dezember, Elisabethkirche Marburg; 4. Dezember, Anthroposophisches Zentrum Kassel.





































