Massenhype versus freie Kultur
Swiftkirchen heißt jetzt wieder Gelsenkirchen
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Julian Gerlach (Bildbearbeitung)
Der völlig aus dem Ruder gelaufene Personenkult um Taylor Swift frisst die freie Kultur auf, weil er dieser die dringend benötigte Aufmerksamkeit entzieht. Ein Ausweg besteht nur in einer starken, lauten, kreativen, bunten und regionalen Szene, die aber auch dringend mehr öffentliche Unterstützung braucht.
Wir haben das Szenario gerade erst vor der Haustür gehabt und die Nachbeben sind noch im Gange: Rund 1.400 Taylor-Swift-Fans haben versucht, eines der „Swiftkirchen“-Ortsschilder aus Gelsenkirchen zu ergattern. Gelsenkirchen hatte sich anlässlich der drei Konzerte der US-Sängerin Mitte Juli temporär in „Swiftkirchen“ umbenannt. Die Stadt folgte damit der Petition einer Schülerin und Swift-Anhängerin. Rund 200.000 Fans kamen in die Ruhrgebietsstadt. Das Höchstgebot für eines der Spaß-Schilder (eine zugegebenermaßen gelungene und humorvolle Aktion des Gelsenkirchener Stadtmarketings) lag bei 3.000 Euro. Zugleich lässt eine andere Meldung aufhorchen: Der FC Schalke kann sich keine Superstars mehr leisten. Bei einer Autogrammstunde im Rahmen ihres Touraufenthalts in Gelsenkirchen unterzeichnete Taylor Swift gleich mal eben einen mehrjährigen Vertrag beim Zweitligisten. Man zeigt sich hier auf jeden Fall optimistisch: Ebenso wie man der amerikanischen Sängerin zutraut, die US-Wahlen entscheidend beeinflussen zu können, sei sie ja wohl auch dazu in der Lage, Schalke wieder besser spielen zu lassen, glauben die Verantwortlichen. Und auch für die „ärmste Stadt im Ruhrgebiet“, wie es auch schon in internationalen Medien reißerisch heißt, ergebe sich ein Mehrwert: Die 200.000 Fans, die wohl für einen guten sommerlichen Geldsegen in der Ruhrgebietsstadt sorgten, müssten nicht mehr groß herumreisen, sondern könnten gleich die nächsten Jahre weiter in Gelsenkirchen campieren. Vorsicht, Satire! Und danke an den Autor Jean Gnatzig für diese, am 17.7. in der WELT veröffentlichte Glosse. Denn sie öffnet den Blick auf ein großes Problem, das in vielen Städten und Kommunen herrscht: Muss das Eigene erst durch eine Figur wie diese wohl überbezahlteste Sängerin der Gegenwart geadelt werden, weil sonst doch zu wenig eigene Performance in einer Stadt und noch weniger Glauben daran übrig bleibt?
Ein Gefäß für kollektive Sehnsüchte
Die Unterwerfung unter den Hype um den "größten Popstar aller Zeiten" hat bereits die akademisch-publizistische Elite inifiziert, wenn etablierte Kulturwissenschaftler die Kritik an künstlerischer Qualität als die ewige Larmoyanz alter weißer Männer abtut und sich auch die Feuilletons gehobener Zeitungen zu infantilen Lobhudeleiden ohne jede analysierende Distanz hinreißen lassen. Ich habe mich an einen Selbstversuch gewagt, mir das Ouevre, um das es hier geht, einmal anzuhören. Der Befund fiel noch schlimmer als erwartet aus. Und ja: Theodor W. Adorno hatte sowas von recht, wie er - unter völlig anderen historischen Gegebenheiten damals - die Verblendungsmechanismen der Unterhaltungsindustrie sezierte und damit in die Zukunft bzw. heutige Gegenwart blickte.
Es ist erstmal etwas Schönes, wenn viele junge Menschen friedlich feiern und auch gemeinsam (mit-)singen – die von Taylor Swift verabreichten Lieder sind dafür bestens ausgelegt, zugegebenermaßen ist das Niveau der Songtexte durchaus feinsinnig und bietet viele Identifikationsmomente. Den Rest besorgt eine gigantische Show und vor allem wohl ein Marketing, dass man sich aus dieser Position heraus eben leisten kann. Junge Menschen stemmen schlecht bezahlte Aushilfsjobs, um ein Ticket im durchweg dreistelligen Bereich für musikalisch stark Vorhersehbares zu erwerben. Manche von ihnen haben in Gelsenkirchen sogar sämtliche vier Shows hintereinander besucht. Viele US-Fans flogen rüber nach Gelsenkirchen, weil die Konzerte in ihrer Heimat komplett ausverkauft waren. Echtes „Fandom“ ist auf die Spitze getriebener Personenkult und ja - auch Verblendung im Adornoschen Sinne: Wenn da „eine wie du und ich“ atemlos durch die Nacht bzw. durchs Volksparkstadion wirbelt, geht das Kalkül eines knallharten Unternehmertums auf und das Markenversprechen ist eingelöst. Die Milliardärin auf der Bühne als Gefäß für möglichst viele Sehnsüchte, Wünsche, Gefühle und musikalische Gewohnheiten. Die Musik dazu verquirlt in einer seichten Harmlosigkeit diverse Elemente aus Country, Pop und anderen Stilen, die originär vor allem vom weißen amerikanischen Mittelstand, aus dem auch Taylor Swift kommt, goutiert werden. Das alles wabert und sediert in einer weichgespülten Wohlfühlpackung, wie sie auch in Huxleys Brave New World die Menschen ruhig stellen könnte - eben so, dass niemand aufbegehrt. Ob Taylor Swift vielleicht gar nicht real ist? Muss man sich im Zeitalter immer leistungsfähiger werdender KI-Anwendungen durchaus mal fragen. "Authentisch" ist dieses durchkalkulierte Gesamtpaket wohl am allerwenigsten und pure Heuchelei umso mehr, dass ausgerechnet Taylor Swifts hunderte Millionen mal verkaufte Tonträger auch noch zur emanzipatorischen Großtat selbstbewussten weiblichen Künstlerinnentums hochstilisiert werden. Eigentlich ist das eine Beleidigung für die vielen beeindruckenden, selbstbewussten, mutigen und d Musikerinnen, die allein wir in unserer Jazzszene haben.
Die Größenordnungen werden immer perverser
Nach diesem emotional gewordenen Exkurs jetzt mal ein etwas objektiverer Blick auf die Größenordnung dieses popkulturellen Phänomens. Die ist, objektiv betrachtet, genauso pervers. Einer immer rasanteren globalen wirtschaftlichen Umverteilung von unten nach oben steht eine ebensolche Monopolisierung bei der Aufmerksamkeitsökonomie zur Seite. Die heutige Digitalisierung der Massenkommunikation agiert alsi willfähriger Erfüllungsgehilfe. War das Internet in seiner ursprünglichen Form nicht mal ein unlimitierter herrschaftsfreier Raum für Erkundung und Entdeckung auch der abseitigsten, subversivsten und kreativsten Dinge und hatte nicht auch in der ganzen Popkultur dieser Zeit ein erfrischend neugieriger, experimentierfreudiger Geist geherrscht? Die Utopien sind heute entzaubert - und der aktuelle Swift-Kult wirkt in seiner Spießigkeit wie das Endstadium dieser Entwicklung. Die Folgen solcher aufgeblasenen, devoten Personenkulte für eine aufgeklärte und echte Kultur, die sowieso schon permanent wirtschaftlich ausblutet, sind verheerend: Wo immer weniger Superstars alle Aufmerksamkeit für sich bündeln, trocknet ein echter Nährboden für Freiheit und Kreativität zunehmend aus.
Das macht auch die ökonomische Chancenungleichheit immer schlimmer. Jene 3.000 Euro, die jetzt von irgendwelchen Sammlern ohne mit der Wimper zu zucken für ein Swiftkirchen-Schild gezahlt wurden, müssen freischaffende Musiker erstmal selbst in die Hand nehmen, um mit der Aufnahme eines eigenen Albums zu beginnen. Ebenso viel kostet ungefähr ein professionelles Imagevideo, was bei vielen musikalischen „Nischenprodukten“ dann vielleicht eine Klickzahl in dreistelliger Höhe erreicht, aber dennoch als Überlebens-Strohhalm angesehen wird.
In der discussions-Reihe beim Moers-Festival gab vor einigen Jahren der Tourneeveranstalter und Publizist Bertold Seliger einen aufschlussreichen Vortrag. Lesenswert ist sein Buch, in dem Seliger aus eigener Erfahrung in der Branche die Zusammenhänge analysiert. Und ja, Seliger vergleich die heutige Musikindustrie sogar „mit einem Drogendealersystem“, in dem es den Global Playern (zum Großteil Aktiengesellschaften) darum geht, die Kundschaft abhängig zu machen. Immer mehr durch die Decke gehende Ticketpreise, die aber – von der weißen Mittelschicht, die es sich leisten kann – folgsam für das Gehypte gezahlt werden, sind dabei das Spiegelbild einer Umverteilung von unten nach oben.
Wie geht es weiter in der „ärmsten Stadt Deutschlands“
Kommen wir zurück auf die Situation von Gelsenkirchen, immerhin der Heimatadresse unseres Jazzmediums und Standort diverser beachtlicher lokaler Bildungsangebote wie einem renommierten Musiktheater, mehreren Jazzkonzertreihen und dem alljährlichen New Colours Festival. Der große Medienwirbel durch Fußball-EM und Taylor Swift haben der Stadt auf jeden Fall gutgetan. Sogar die Neue Züricher Zeitung hat in einem ganzseitigen Artikel die Gesamtlage der Stadt in Folge des industriellen Strukturwandels analysiert und diese sehr objektiv und wertschätzend, weil eben nicht die üblichen Narrative bedient wurden. Gelsenkirchens Stadtmarketing ließ sich von den Weltereignissen anstecken und reagierte denkbar aufgeweckt, um viel Atmosphäre zu zaubern, dass alles vom Geist dieser Ereignisse erfüllt war. Mit diversen Fan-Meilen, Bannerwerbung, besagter Schilder-Aktion und vielem mehr.
Wir fragten nach bei Bernd Zimmermann, der vom 12. bis zum 15. September zum dritten Mal das New Colours Festival veranstalten wird und wo zurzeit noch Luft nach oben beim Ticketverkauf ist. Seine Einschätzung: Vieles, was bislang unmöglich schien, wurde angesichts der weltweit beachteten Großevents überraschend tatkräftig realisiert. Es geht also doch, wenn man nur will. Nun stehen gewichtige Argumente im Raum für neue Möglichkeiten und Wege, um auch das breite Kulturangebot vor Ort, auch außerhalb der großen Events, in „der ärmsten Stadt Deutschlands“ gibt, publik zu machen. Die gute Chance, diesem Fahrwasser jetzt weiter zu folgen, sollte nicht verspielt werden. Die Verantwortlichen können, wenn sie wollen. Jetzt nun, eben weil Taylor Swift doch keinen Mehrjahresvertrag bei Schalke unterzeichnet hat, könnte man doch mit derselben Energie weiter machen, um die eigenen kulturellen Ressourcen noch wirkungsvoller ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen.