Gedanken aus der Recklinghäuser Jazz-Corona-Provinz
Eine Chronik von Ingo Marmulla
TEXT: Ingo Marmulla | FOTO: Wolfgang Bökelmann
"Gedanken" aus der Recklinghäuser Jazz-Corona-Provinz | Eine Chronik von Ingo Marmulla
Ingo Marmulla , Gitarrist und Initiator der Jazzsessions in der Recklinghäuser Altstadtschmiede hält von Recklinghausen aus die Szene auf Trab. Seine Chronik der letzten Monate dürfte typisch für viele andere Jazzer und sonstige freiberufliche Kreative in diesen Tagen sein....
Freundliche Ordnungshüter und der Jazz
Vor 14 Tagen war der Termin für die standesamtliche Hochzeit meines Sohnes in Köln. Während die eigentliche Hochzeitsfeier im Mai stattfinden sollte, natürlich mit Jazzband (PS: Ich habe meinen Mitmusikern natürlich schon abgesagt!), war dieses Ereignis zwangsweise ganz überschaubar geplant. Dennoch wollte ich auf eine kleine musikalische Zugabe nicht verzichten. Zwei kleine Präsente wollte ich zum Tag der Tage mit bringen.
Das erste Geschenk, eine CD mit dem Titel "Der Hochzeitssong", ließ sich problemlos überreichen und kam im weiteren Verlauf dieses denkwürdigen Tages ganz gut an . Tatsächlich hat diese "Produktion" mittlerweile auch Bedeutung für meine zukünftige musikalische Arbeit gewonnen. Näheres im letzten Abschnitt meines Beitrags ...
Das zweite Präsent, ein kleines musikalisches Ständchen, gestaltete sich eher unfreiwillig "komödiantisch". Bei der eigentlichen Trauungszeremonie auf dem Standesamt durften wir natürlich nicht anwesend sein. Meine Idee war daher, dass Paar musikalisch zu empfangen. Und zwar ganz kurz und eher in lustiger Form. "Vor dem Hauseingang oder im Park?", das war die Frage. Leider entschied man sich für den Park.
Ich hatte Katrin Scherer, mit der ich etliche Konzerte bestritten habe, Noten für drei kleine passende Songs geschickt. Mein batteriebetriebener Miniverstärker funktionierte gut, wir stimmten uns ein und warteten auf das Paar bei Sonnenschein unter einem Baum. Allerdings erschienen dann nicht die frisch Vermählten, sondern drei Ordnungskräfte, die sich über unsere vermeintlichen Aktivitäten informieren ließen. In sehr höflichem Ton machten sie uns klar, dass wir kurz davor wären, pro Person eine Ordnungsstrafe von 200 € zahlen zu müssen.
Angesichts der entsprechenden Gesamtsumme - wir waren mit Eltern und Geschwistern vielleicht eine zu zehnt in einem weiten Kreis aufgereihte "Versammlung" - , beschlossen wir, unser Mini-Konzert zu transponieren. Es wurde ein Balkon-Konzert! Ein "Git-Sax-Festtags-Duo" spielt in gehörigem Abstand für das Brautpaar im Hof. Die Hochzeitsgesellschaft verteilt sich dazu in gehöriger Distanz auf der Straße bzw. den Bürgersteigen, um nicht zu einer erneuten Versammlung zu mutieren ...
An diesem schönen Nachmittag hatte ich meinen derzeit letzten ungewöhnlichen und unvergesslichen Auftritt.
CD-Produktion in Zeiten von Corona
Jazz in Recklinghausen ist natürlich wesentlich bestimmt durch die Aktivitäten der JazzIni in der Altstadtschmiede. Jeden Donnerstag gibt es hier ein Opener-Konzert mit anschließender Session. Unter anderem gibt’s da die Hausband, die überregionale Künstler einlädt und diese dann begleitet. So war im Dezember Norbert Gottschalk da, im Januar begleiteten wir Reiner Witzel , im März hatten wir eigentlich Tobias Hoffmann eingeladen ... Das war immer gut besucht und hätte auch im März das Publikum wieder begeistert.
Natürlich hatte man Anfang des Jahres schon mitbekommen, dass weit weg in Asien, in China, ein Virus die Runde machte. Allerdings waren wir hier in Recklinghausen so weit davon entfernt, sowohl geographisch als auch in unseren Köpfen, dass sich damals keiner von uns vorstellen konnte innerhalb weniger Wochen auch persönlich davon betroffen zu sein.
Im Dezember und Januar probte ich mit Bernd Gremm und Stefan Werni (der besagten Hausband) die Stücke für meine neue CD, die in absehbarer Zeit im Studio aufgenommen werden sollte. Da es sich hier um eine sehr umfangreiche Produktion handelt, mit 15 sehr unterschiedlichen Stücken, zahlreichen Teilen und komplizierteren Arrangements, beschloss ich, diese Aufnahmesession zu untergliedern. Zunächst sollten die Grundaufnahmen der Rhythmusgruppe erfolgen, nachträglich sollten Einspielungen der weiteren Solisten hinzugefügt werden.
Schon während unserer Proben verdunkelte sich die Atmosphäre und Corona wurde ein Thema. Allerdings hatten wir noch nicht auf dem Schirm, dass in wenigen Tagen auch uns die Ereignisse erreichen sollten.
So war ich noch Anfang Februar mit meinem "Ensemble West" zu Gast bei Ben Bönniger in Münster mit einer traumhaften Besetzung. Gerd Dudek, Klaus Osterloh , mein Namensvetter Ingo Senst und Thomas Hufschmidt spielten hier unter anderem einige Stücke meines neuen CD-Projektes.
Alles in allem schien die musikalische Zukunft für das kommende Halbjahr und den Herbst auf einem guten Weg zu sein. Es waren einige sehr interessante Konzerte in der Schmiede, allerdings auch an anderen Orten geplant und in Sichtweite, so dass insgesamt die Stimmung auch bei meinen Mitmusikern recht positiv war.
Ende Januar gingen wir dann in das Reviertonstudio zu Wolfgang Bökelmann in Herne. Die Groundtapes konnten wir an jenem Wochenende erfolgreich beenden. In den folgenden Tagen ging es darum, weitere Instrumente einzuspielen.
Im weiteren Verlauf des Monats Februar wurden dann die Bewegungs -und Kontakteinschränkungen verstärkt, denn das Virus war auch bei uns in NRW angekommen. Aber bei beruflichen Verpflichtungen durfte man natürlich weiterhin tätig sein. Hufe kam vorbei, spielte seine Piano-Parts, ich ergänzte einige Gitarren, alles noch ganz easy. Anfang März wurde es sonderbar: Als Matthias Bergmann und Gerd Dudek ins Studio kamen, umarmte man sich schon nicht mehr. Die Stimmung war schon recht gedrückt. Gerd's Kommentar: "Alle reden nur noch von Corona!" Natürlich wurde immer noch viel gescherzt ...
Die Grundkonstellation meiner Produktion besteht in der Aufnahme meines Trios in Erweiterung von Flöte und Gesang. Michael Heupel und Charlotte Illinger sollten das Trio ergänzen. In dieser Form war auch ein Konzert in der Recklinghäuser Kunsthalle geplant. Was lag näher, als ein vorbereitendes Konzert in der Altstadtschmiede? Dieses lies sich am Weiberfastnachtsabend durchführen und war zeitlich gut koordiniert mit den weiteren Studioterminen.
Die Einschränkungen änderten sich nun allerdings schon im Tagesrhythmus. Gesang und Flöte standen am Mittwoch auf dem Studioplan, freitags war unser Konzerttermin in der Kunsthalle terminiert. In die Aufnahmesession platzte die Nachricht , dass unser Bassist aus familiären Gründen ausfiel. Ein Ersatz konnte zwar schnell gefunden werden, allerdings fragten wir uns schon, wie sich dieses Konzert in Corona Zeiten gestalten ließe, denn noch war es nicht abgesagt. Einen Tag später aber kam dann die Absage!
Nun bin ich ja auch Organisator der JazzIni. Und an just diesem Donnerstag, dem 12. März, sollte die Bigband Dorsten in der Schmiede spielen. Schon morgens telefonierte ich deshalb mit Jo Gauer, um ihm meine Bedenken mitzuteilen. Und nun vollzogen sich die Ereignisse in noch viel kürzerer Taktung. Mittags hieß es, das Konzert finde statt, um 18:30 Uhr erreichte mich ein Anruf, die Veranstaltung dürfe nicht stattfinden. Das schafft natürlich bei allen Musikern Unmut...
Seitdem gibt es auch in der Schmiede keine Veranstaltungen mehr und ich als Organisator der JazzIni kann den eingeplanten Bands nur mitteilen, dass wir versuchen werden, die geplanten Konzerte nachzuholen. Fragt sich nur: Wann?
Denn mit dem Nachholen ist das so eine Sache. Für mich persönlich stellt sich das genauso problematisch dar wie auch für alle Jazzmusiker hier im Lande. Zwar bin ich nicht von meinen Konzerteinnahmen abhängig, dennoch weiß ich, wie schwer es ist, Termine neu zu organisieren. So war in meinem Fall eine kleine Tournee mit Wolfram Knauer und Peter Ortmann geplant, desgleichen eine kleine Tour mit Axel Fischbacher . Während nun einige Termine direkt abgesagt werden mit der Hoffnung auf eine Terminverschiebung im Herbst, lässt man anderen Termine erst einmal laufen, ohne zu wissen, was denn nun tatsächlich passiert. Und ich glaube, so handhaben es im Moment ganz viele Musiker.
Planungen für die Altstadtschmiede und sonstiges
Wie kann es nun weitergehen mit dem Jazz in Recklinghausen und anderswo in der weiten Welt? Einkaufen gehen, Behördengänge, digitaler Unterricht und ab heute sogar "unter Umständen" Museumsbesuche, sind machbar! Wie aber kann man was auf der Ebene von Live-Konzerten realisieren? Eine Idee, die wir im Moment angehen, besteht darin, für unsere treuen JazzIni-ZuschauerInnen Mini-Konzerte ins Netz zu stellen. Diese müssten natürlich vorher pressemäßig angekündigt werden. Hierzu laufen Gespräche mit dem zuständigen Ordnungsamt, bisher allerdings ohne konkretes Ergebnis. Das Amt wartet auch erst einmal ab. Man will keine rechtlich unsichere Entscheidungen treffen. Zumindest wäre man als JazzIni aktiv und bliebe zumindest digital in Kontakt mit unserem Publikum. Bis zum Sommer könnte man sich mit solch einer Aktion durchhangeln. Life-Streaming kommt für uns ja eher nicht in Frage. Im Rundfunk gibt es dafür entsprechende Sendezeiten, für uns aber nicht.
Die Frage ist natürlich, wie geht es dann im Herbst weiter. Und darauf hat keiner eine wirkliche Antwort. Ohne einen Impfstoff wird es voraussichtlich keine normale Konzertsituation geben. Sehr bitter ...
Digitale Möglichkeiten
An dieser Stelle vielleicht noch eine kleiner Anmerkung von mir, die auf mein erstes Hochzeitspräsent zurückgeht. Meine Idee war, dem Hochzeitspaar einen Hochzeitssong zu schenken. Der musste natürlich aufgenommen werden, und zwar möglichst authentisch und auch nicht "zu perfekt". Schnell kam ich auf die Idee das Lied "Schuld war nur der Bossa Nova" umzutexten und für diese private Angelegenheit aufzunehmen. Wie macht man das zu Hause? Da fiel mir ein, dass sich auf meinem Computer ein Programm namens Garage Band befindet. Ich hatte jetzt auch die Zeit mich mit als diesem Programm auseinander zu setzen. Tatsächlich habe ich sämtliche Stimmen meines kleinen Arrangements hier zu Hause eingespielt und als "Hochzeits-CD" gebrannt. War ganz lustig...
Also: Warum nicht mal, wenn die Zeit vorhanden ist, einfach auf diese digitalen Möglichkeiten zurück greifen und eine kleine Home-Produktion starten. Das ist natürlich kein Konzert und kein wirklicher Ersatz für gelebten Jazz. Dennoch sind es schlafende Ressourcen, an die man nicht immer denkt, die man sich aber nutzbar machen kann. In den vergangenen Jahren habe ich den Computer eher als Notensetzmaschine gesehen. Nun konnte ich, aufgrund von mehr "freier Zeit" den Ratschlag vieler moderner Jazzlehrwerke umsetzen und mir genau anhören, was ich so spiele. Die Umstände meiner "home office"-Tätigkeit haben mir also auch neue Möglichkeiten aufgezeigt, auf die ich sonst vielleicht nicht so spontan gestoßen wäre...
In diesem Sinn schließe ich meine Gedanken in der Hoffnung, dass wir alle möglichst bald zur Normalität zurückkehren können. Jazz ist nun mal etwas Lebendiges und alle digitalen Varianten sind keine wirkliche Alternative. Keep Jazz alive!