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Es ist noch lange nicht vorbei

Versuch einer Zustandsbeschreibung der freien Kultur

Gelsenkirchen, 04.09.2025
TEXT: Stefan Pieper | 

Wir schreiben das Jahr 2024. Die gesamte deutsche Kulturlandschaft ist von Sparmaßnahmen, Gratiskultur und gesellschaftlicher Gleichgültigkeit besetzt... die gesamte? Nein! Ein von unbeugsamen Kulturschaffenden bevölkertes Biotop hört nicht auf, dem kulturellen Absterben Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die Verwaltungsbeamten in den Ministerien und Behörden...

Das New Colours Festival in Gelsenkirchen ist ein Schauplatz von vielen, an denen gekämpft wird. Es geht um die Frage, wie ein System funktioniert, das Kultur systematisch in den Würgegriff nimmt und dabei so tut, als würde es sie fördern. Vor allem aber geht es um die, die trotz alledem nicht aufgeben – die mit mutigen Konzepten dem Absterben der Kultur in der Peripherie trotzen. Oktober 2024: Der Förderantrag beim Land NRW ist raus. Ab jetzt heißt es warten. Sechs Monate sollen es werden. Längst mussten die Verträge mit den Bands und Künstler*innen sicher gemacht werden, der Vorlauf ist immens. Also: Verträge unterschreiben auf Verdacht, in der vagen Hoffnung, dass am Ende das Geld da ist. Das System zwingt zum Pokern mit Geld, das man nicht hat – aber die Veranstaltenden spielen mit, weil sie wissen: Ohne Risiko gibt es keine Kultur.

Mai 2025: Der Vierzeiler kommt. "Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Sie keine Förderung bekommen." Ein Viertel des Budgets ist damit weg. Das Festival hatte sogar vorsorglich die Anträge reduziert, weil alle wussten, dass gespart wird. Hat nichts genutzt. Sechs Wochen fürs Marketing verloren, wichtige Zielgruppen-Kontaktmöglichkeiten verpasst. Immer wieder stellt sich die Frage: Die Sache durchziehen? Und damit signalisieren, dass Kultur auch ohne öffentliche Alimentation funktioniert? Was aber auch das falsche Signal setzen kann, denn dies legitimiert im schlimmsten Fall den weiteren Rückzug der öffentlichen Hand aus ihrem demokratisch legitimierten Kulturauftrag. Oder einfach aufgeben und mit einem weiteren Sargnagel den Kulturstandort weiter schwächen? Was war eigentlich mit dem Kulturfördergesetz NRW, mit dem vor einigen Jahren großspurig eine „Zeitenwende" zum Besseren verkündet werden sollte? Der letzte verpflichtende Kulturförderbericht stammt aus dem Jahr 2022.

Kultur mit Anspruch vs „Niedrigschwelligkeit“

Still ist es bei allem nirgendwo. Während die öffentliche Hand ihre Förderung streicht, läuft die städtische Konkurrenz zur Höchstform auf. Nochmals Beispiel Gelsenkirchen: Rasmus Baumanns Hitparade mit der Neuen Philharmonie Westfalen? Umsonst. Rock am Dom? Umsonst. Stadtfest mit einer abgehalfterten 90er-Jahre-Band zu "150 Jahre Gelsenkirchen"? Auch umsonst. Brot und Spiele für das Volk, nur ohne das Brot, könnte man polemisieren, eine maximale Niedrigschwelligkeit inklusive. Wer jetzt für gehobene Kultur mit Anspruch ordentliche Eintrittspreise kassieren will, steht unweigerlich da wie jemand, der für Leitungswasser kassieren will. Fazit: Was als kulturelle Teilhabe verkauft wird, ist die latente Zerstörung professioneller Strukturen.

Das Problem der Kultur ist multikausal und erwächst aus dem System. Da ist die Sache mit der Aufmerksamkeitsökonomie: Vor Ort weiß oft niemand, was vor der Haustür passiert. Etwas daran zu ändern ist mit horrenden Kosten verbunden. Das Bildungsbürgertum, auf seinen gewohnten Pfaden wandelnd, übersieht systematisch lokale Angebote. Gerade in der Kultur-Diaspora, also vielen strukturschwachen Ruhrgebietsstädten, kommt der Imagefaktor erschwerend dazu: Was lokal stattfindet, kann ja nichts sein. Berlin, Köln, Düsseldorf – das ist echte Kultur. Gelsenkirchen? Marl? Gladbeck? Herten? Kann weg. Dieselben Leute, die über den Strukturwandel klagen, tragen aktiv dazu bei, dass er kulturell zum Totalschaden wird. Aber sie täuschen sich: Die lokale Szene ist lebendiger, als sie denken.
Trotz dieser strukturellen Hindernisse probiert die Kulturszene alles und ist auf neuen Wegen unterwegs. Ältere Veranstalter holen sich junge Leute als Multiplikatoren ins Boot, die Social Media können und den Anschluss an lokale, junge Szenen suchen. Die Reaktion ist oft bescheiden. Nicht weil das Programm schlecht wäre, sondern weil Aufmerksamkeit zu einem endlichen Gut geworden ist. Aber 32 verkaufte Tickets bei einem Konzert sind auch 32 Menschen, die erreicht wurden. Das ist ein Anfang.

Die Kultur schafft sich selber ab

Die politische Dimension dieses Problems zeigt sich mal wieder auf den Wahlplakaten, wo es immer um Versprechungen, selten um Inhalte geht. In Gelsenkirchen geht es um "Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit". Kultur hat noch nie irgendwo mit draufgestanden. Fazit: Kultur verschwindet nicht durch Feindseligkeit – sie wird schlicht irrelevant. Irrelevanz ist vielleicht doch heilbar? Man muss nur hartnäckig genug sein. Auch kleine Dinge können wachsen – wenn man nicht aufgibt.
Viele Spielstätten, Konzertreihen und Festivals sind in den letzten Jahren nach kurzem öffentlichen Aufschrei sang- und klanglos verschwunden. Es wurde kapituliert. Auf dem Moers-Festival stand ein Mahnmal gegen das Vergessen, das die Namen vieler bereits untergegangener Veranstaltungen trug. Ein Friedhof der Kulturgeschichte, aufgebaut aus Träumen, die zu schwer geworden waren. Ein solches Mahnmal muss Verpflichtung sein, dass jede Generation aufs Neue um ihre Kultur kämpfen muss.
Die schleichende Zerstörung kultureller Infrastruktur geschieht durch eine perfekte Kombination aus administrativer Inkompetenz, gesellschaftlicher Konditionierung, regionaler Selbstverachtung, medialer Aufmerksamkeitsfragmentierung und politischer Kurzsichtigkeit. Nicht durch böse Absicht geschieht diese Demontage – durch die Logik eines Systems, das Kultur als Luxus behandelt. Viele kleine Probleme vereinen sich zu einem System aus Sabotagen. Aber jedes System hat Schwachstellen. Und jede Schwachstelle ist eine Chance.
32 verkaufte Tickets für ein internationales Konzert in einer Großstadt. Zugleich geht es auch mit der Internationalität bergab, wo die Förderungen ausbleiben. Was als "Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen" verkauft wird, ist allzu oft kultureller Abstieg. Aber es gibt sie noch: die Veranstalter, die mutig neue Wege suchen, die mit ambitionierten Programmen dem kulturellen Stillstand trotzen.

Warum machen wir das eigentlich noch?

Was wir hier dokumentieren, ist das Ende einer Ära: der naive Glaube, dass sich Kultur in der Peripherie von selbst trägt, dass lokale Angebote automatisch Wertschätzung finden, dass kulturelle Arbeit selbstverständlich gesellschaftlich getragen wird. "Warum machen wir das eigentlich noch?" – diese Frage steht am Ende vieler Gespräche mit Kulturveranstaltern. Die ehrlichste Zustandsbeschreibung lautet: Wir wissen, dass es schwer ist – aber wir machen trotzdem weiter. Weitermachen in Sachen sportlich fröhlicher Selbstausbeutung, weil die Alternative – nichts tun – keine Option ist. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen – aber Windmühlen kann man auch erobern. Dass es noch lange nicht vorbei ist, zeigt ein immer noch gut gefüllter Veranstaltungs- und vor allem Festivalkalender. Platzhirsch geht in diesem Jahr wieder richtig in die Vollen. Auch einige junge Festivals haben in nur wenigen Jahren eine treue Basis geschaffen, zwar nie als Massenkultur, sondern als Nährboden, damit zarte Pflanzen weiter gedeihen – allen feindlichen Wirklichkeiten zum Trotz. Noch ist es nicht vorbei mit der Livekultur – nur hingehen muss man immer noch selber.

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