Christian Müller "Doing Jazz"
Magic Moments
TEXT: Heinz Schlinkert |
„.. jazz ist nur ein wort .. das hat für mich keine große bedeutung .. es is irgendwas was man benutzt um irgendwas zu beschreiben was: ich überhaupt normalerweise gar nicht nachvollziehen kann.“ (S.11)*
In Doing Jazz geht es darum, wie Jazz ganz konkret beim Spielen ‚gemacht‘ wird. Was passiert in diesen Magic Moments, wenn Musiker improvisieren. Was geschieht, wenn sie in einer Band interagieren und welche Rolle spielen dabei Raum und Publikum?
Dieses Buch ist nicht leicht zu lesen, es ist die Dissertationsschrift von Christian Müller, der damit an der Freiburger Universität habilitierte. 2017 wurde der Text im Wissenschafts-Verlag Velbrück veröffentlicht. Der Text enthält sehr viele Theorie-Bezüge und es ist manchmal schwierig, die Übersicht zu behalten.
Es gibt inzwischen viele soziologische Abhandlungen über Jazz, doch dieses Buch ist besonders interessant, weil der Autor Jazz-Musiker befragt und die Interviews analysiert hat. Ich werde hier versuchen einen Überblick das Buch zu geben, indem ich die wichtigsten Ergebnisse - ohne die sehr ausführlichen und komplexen Theoriebezüge - darstelle. Die Untersuchung findet auf drei Interaktions-Ebenen statt: Musiker und Instrument, Musiker und Band, Band und Raum/Publikum.
- Musiker und Instrument
Auszug aus einem Interview mit einem Saxofonisten: „...es hängt direkt vor meinem leib. Und der leib ist ja auch des, wo die vitalen organe drin sitzen. Es hängt jetzt nicht am fuß oder am rücken wie‘n rucksack oder hinterm kopf oder auf dem kopf, sondern es liegt wirklich am leib ..und es hängt genau da und mit berührung, also es schwingt auch ..“ (S.73)
Diese hybride Verbindung mit dem Instrument wird auch Embodiment genannt. Der Musiker kann beim Spielen gar nicht mehr genau zwischen seinem Körper und seinem Instrument unterscheiden, beide sind – ähnlich wie ein Blinder und sein Stock – miteinander verwachsen. Das Embodiment ist wechselseitig: „Der Musiker inkorporiert das Instrument und benutzt es im Idealfall wie einen Teil seines Körpers, wird gleichermaßen aber auch selbst von dessen Eigendynamik inkorporiert.“ Bei der Interaktion mit dem Instrument wirken die vom Musiker selbst erzeugten Klänge auf diesen zurück, woraufhin dieser wiederum mit der Produktion neuer Klänge reagiert, usw.
- Zusammenspiel als Band
Wenn nun der einzelne Musiker mit seinem Instrument verschmilzt, wie kann er dann gleichzeitig die anderen Musiker wahrnehmen und beim Improvisieren auch noch auf sie spontan reagieren? Zentral ist hier der Begriff der „kollektiven Intentionalität“. Es handelt sich dabei aber nicht um bewusste Prozesse und rationale Handlungen.
„..bei mir is es des zumindest irgendwie nicht jetzt so, dass ich das spiele und höre so genau was Lara macht und mir dann denke, ab dann mach ich das ma mit, sondern das is schon so völlig automatisch drin irgendwie ... dann machen meine Hände irgendwie genau das, was halt dann so passt, ohne dass ich jetzt darüber nachgedacht hab ...“ (S.113)
Damit das so ‚völlig automatisch‘ gelingt bedarf es vor allem der Kontingenz. Der Autor zeigt am Beispiel der Klangerzeugung eines Musikers, wie offen man in einem ‚konjunktiven Erfahrungsraum‘ mit den Klangbildern der anderen Bandmitglieder umgehen kann. Die Kontingenz bezieht sich aber auch auf das soziale Verhalten in der Gruppe:
„... besondere Momente beim Spielen ... so zwischen UNS das manchmal passiert, dass man im gleichen Moment genau das Gleiche spielt, manchmal sind wir dann selber ganz verwirrt und gucken uns an und denken so ach KRASS..“ (S.134) Dies funktioniert aber nur mit bestimmten Leuten. Dann ist es „mehr das Erleben von Eintauchen, und dann ist es wie wenn man schwimmt im Wasser.... Du merkst genau, wenn der Sound stimmt und die Leute aufeinander eingetuned sind und dann gibt es einfach .. was Geniales. Und das Geniale kann man gar nicht wollen, sondern des entsteht plötzlich...“ (S.135),
Insbesondere die Wasser-Metaphorik wird vom Autor übernommen, um das Zusammenspiel der Musiker zu erklären. Der Groove bildet dabei die gemeinsame Basis, die immer mitschwingt, da die Musiker sehr aufmerksam sind und bereit, andere musikalische Ideen zu akzeptieren, aufzunehmen und u. U. weiterzuentwickeln.
Und wie ist das alles zu erklären? In den Interviews ist von ‚Magie‘, von einem ‚Wunder‘ die Rede. Doch es kommt vor allem auf die Haltung der Band-Mitglieder an, die dieses ‚Wunder‘ bewirkt, auch wenn dies auf keinen Fall geplant werden kann.
- Die Konzertsituation
Der Raum, in dem ein Konzert stattfindet, ist ein wichtiger Faktor. Dies betrifft zunächst den materiell-physikalischen Aufbau, der - wie man auch von Konzertsälen weiß - die Qualität der Klänge entscheidend prägt. Er wird als Klangkörper sozusagen eine Erweiterung des Instruments. Darüber hinaus beeinflusst er - zusammen mit Licht und Ausstattung - die Musiker, indem er bei ihnen Erlebnisqualitäten und Stimmungen auslöst und so eine Konzert-Atmosphäre schafft.
Auch das Publikum und seine ‚Rezeptionshaltung‘ spielen natürlich eine große Rolle.
„... wir hatten neulich so’n -auftitt, das ist vom ersten takt an die post abgegangen. ... du kriegst vom publikum soviel energie, dass du einfach zu einer anderen performance in der lage bist..“ (S.179)
Bei der Interaktion zwischen Band und Publikum kann es zu einer Feedback-Schleife kommen, bei der beide Seiten sich gegenseitig beeinflussen. Doch das muss nicht immer gelingen.
„... es ist wirklich anstrengend und ja langweilig..., wenn du weißt okay ich muss die nummer jetzt zu Ende spielen, aber wenn du merkst dieses publikum beißt nicht an. ... das musste halt durchstehen..., obwohl diesen der funke fehlt. .. is nich so leicht, wie wenn der funke von außen zurückkommt ..“ (S.178)
Dabei kann sich die Band in einer ‚Inselstellung‘ auf sich selbst zurückziehen, sie kann aber auch durch ‚Aufmerksamkeitsstrategien‘ versuchen, die Interaktion wieder in Gang zu setzen. Auf jeden Fall ist die Aufmerksamkeit des Publikums „Dreh- und Angelpunkt der empfundenen Sinnhaftigkeit einer Jazzperformance“ (S.194).
- Fazit
In Wirklichkeit ist das alles noch viel komplexer als ich es hier darstellen kann. Das Buch ‚wimmelt‘ von Fachbegriffen und Bezügen auf soziologische, vor allem interaktionistische Konzepte. Das mag für eine Dissertation wichtig sein. Bei einem nicht wissenschaftsorientierten Leser kann das leicht dazu führen, dass er das Buch nach ein paar Seiten aus der Hand legt.
Das liegt auch an der Vorgehensweise. Den Interview-Kapiteln wird jeweils ein Kapitel mit ‚Theoriebezügen‘ vorangestellt; danach werden dann jeweils ‚Theorieanschlüsse‘ entwickelt, die aber nicht unbedingt an die vorangestellten ‚Bezüge‘ anknüpfen. Das ist manchmal ziemlich verwirrend und man fragt sich dann vielleicht, worauf das Ganze eigentlich hinausläuft, zumal ja keine klaren Endergebnisse formuliert werden. Zu dieser komplexen Methodologie kommt noch der extensive Gebrauch der manchmal fast unverständlichen Fachsprache, die an Sloterdijk erinnert.
Wegen der bewusst gewählten rein soziologischen Herangehensweise kann das Buch nicht alle Aspekte der Thematik berücksichtigen. Sonst könnten z. B. bei der Analyse der von den Musikern empfundenen ‚Magie‘ auch Kognitionspsychologie und Gehirnforschung weiterführende Erklärungen beisteuern. In diesem Zusammenhang vermisse ich auch die Begriffe flow und Achtsamkeit, vielleicht wäre auch ein Vergleich mit dem Duende im Flamenco interessant.
Die Thematik des Buches ist sicher für Musiker und für viele Jazz-Fans sehr interessant. Eine populärwissenschaftliche Fassung mit einem größeren Anteil an Interviews, ohne Rückgriff auf Theoriesysteme, mit mehr auf Jazz bezogenen Beispielen wäre eine gute Sache!
Ein Letztes: Warum sollen die Ergebnisse dieses Buchs eigentlich nur für den Jazz gelten? In neueren Publikationen, z. B. bei Anke Steinbeck, wird deutlich, dass Improvisation nicht allein dem Jazz vorbehalten ist, sondern auch in anderen Musikrichtungen eine Rolle spielt.
Christian Müller, Doing Jazz Zur Konstitution einer kulturellen Praxis
Erscheinungsjahr: 2016
Hardcover 260 Seiten
ISBN 9783958321021
29,90 €
*Anmerkung zu den Zitaten aus den Interviews: Es wurde die originale Schreibweise in Kleinschrift übernommen, Satzzeichen wurden ergänzt, Räuspern u.ä. ausgespart