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„Zu Asche, zu Staub“

Baltic Sea Philharmonic plays Babylon Berlin

Berlin, 05.10.2023
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Paul Gärtner, Sunbeam Productions

Soeben ist die vierte Staffel der Kultserie Babylon-Berlin im TV angelaufen, auch auf den Mediatheken verfügbar. Zuvor stemmte das Baltic Sea Philharmonic eine furiose Live-Inszierung der Filmmusik zur Serie. Im November gibt das Baltic Sea Philharmonic zwei Konzerte in NRW.

Ein ganzes Sinfonieorchester, das auswendig spielt. Programme, die aus Meisterwerken der Musikgeschichte und atmosphärischen Neukompositionen und neuerdings sogar improvisierten Ideen der Orchestermitglieder einen kraftvollen Mix entstehen lassen. Ein Dirigent, der wie ein Rockstar seine ganze „Band“ aufmischt - denn so nennt der estnische Dirigent und Komponist Kristjan Järvi sein Baltic Sea Philharmonic, das vor 15 Jahren, damals noch als Jugendorchester im Rahmen des Usedomer Musikfestival gegründet wurde. Heute hat sich das Baltic Sea Philharmonic als Marke etabliert, wenn es um Revolutionierung des sinfonischen Betriebs geht. Gerade wurde bei dieser „Band, die mit Orchesterinstrumenten spielt“ (Kristjan Järvi) die nächste Stufe beim Aufstieg in den Musikhimmel der Zukunft gezündet. Das vibrierende Show-Potenzial der Musikerinnen und Musikern und ihres nimmermüden Leaders wurde für ein besonderes künstlerischen Sujet funktionalisiert: Auf drei Gala-Vorstellungen präsentierte das Baltic Sea Philharmonic eine schillernde Konzertrevue zur Erfolgsserie „Babylon Berlin.“ Was natürlich auf der Hand lag, eben weil Kristjan Järvi (zusammen mit Tom Tykwer und Johnny Klimek) an sämtlichen Filmmusiken der Serie beteiligt ist. Pünktlich zum Start der vierten Staffel im TV ist auch ein Mitschnitt des Premierenabends in der ARD-Mediathek abrufbar.

Mein neues Selbst sei frei

Was sich im Berliner Theater des Westens abspielte, war eine kraftvolle, auf die Bühne gebrachte Inkarnation der ganzen düster-morbiden, dekadent-lustvollen, oft verstörend widersprüchlichen Stimmungswelt, mit der „Babylon Berlin“ die Zeitgeschichte zwischen den ausgehenden 1920 und beginnenden 1930er Jahre fühlbar und damit verstehbar macht. Die Musikerinnen und Musiker sind auf zwei Etagen der Bühne verteilt. Und ja: alle Bandmitglieder aus Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schweden lassen, angefeuert von ihrem Bandleader auf Anhieb die Luft brennen. Es wirkt eine Mixtur aus treibenden Rockelementen, sphärisch-melancholischen Minimal-Music-Lyrismen, cineastischem Breitwand-Bombast, ebenso wie aufreizend swingende jazzige Parts an Charleston und Co. erinnern und einschlägige Leitmotive aus den Filmsoundtracks in den emotionalen Sog von „Babylon Berlin“ hineinziehen. All das appelliert an den heutigen Hör-Horizont. Und genau das ist der springende Punkt: Kristjan Järvi und das Baltic Sea bleiben, ebenso wie Babylon Berlin im Ganzen, nicht in irgendeiner wohlfeilen nostalgischen Aufpolierei stecken, sondern holen ihr Publikum im heute ab. Wenn sich das, hier auf etwa 50 Mitglieder „reduzierte“ Orchester, mit seinem Sound in alle verführerischen Dimensionen hochschraubt, sind die Musikerinnen und Musiker auch schön anzusehen dabei. Die befreite Choreografie aller Beteiligten wirkt deswegen so vortrefflich, weil Notenständer beim Baltic Sea Philharmonic schon lange eine Sache von vorvorgestern sind. Mit genug morbidem Glamour wurden im Berliner Theater des Westens die einschlägigen Stücke aus der Serie abgefeiert – natürlich das mysteriöse „Zu Asche, zu Staub“, welches in jazzigem Offbeat-Groove Natalia Mateo und Christina Russo zu Gehör bringen. In fast technomäßigen Beat bilden Meret Becker und Sabin Tambrea ein Duo in einem gespenstisch lasziven „Elsa Mechanik“, dessen Lyrics wie ein Manifest wirken: „Den Körper befreien, vom Geist, ganz allein, Venen unter Strom, Arterien aus Chrom, Mein neues Selbst sei frei.“Aus vielen einschlägigen Chancons und Liedern dieser, zum Beispiel „Ein Tag wie Gold“ spricht vor allem Lebenshunger. Meret Becker gibt - chamöleonhaft wandelbar - alles, darstellerisch und auch stimmlich und spielt auch mal ein Solo auf einer singenden Säge. Chansonnier Max Raabe steht dem mit generöser Präsenz in keinem Moment nach. Järvi ist in allen Momenten mitten drin in dem von ihm intendierten ganzheitlichen sozialen Geflecht beim Musikmachen. Babylon Berlin macht Lust auf Geschichte, zieht oft erschütternd, aber immer auf maximalem Spannungslevel in die Abgründe, aber auch die Lebenslust dieser schicksalsschweren Zeit hinein. Und alle diese Regungen zelebrierte, ja feierte „Babylon Berlin in Concert“ - so aufreizend kann der Tanz auf dem Vulkan sein kann!

Das Baltic Sea Philharmonic kommt im November nach NRW

Es wundert schon fast: wenn ich Musik-Insidern vom Baltic Sea Philharmonic erzähle, von dem großen Orchester, dass immer komplett auswendig ohne Noten spielt, bleibt vielen immer noch der Mund vor Staunen offen stehen. Da kann es nur Abhilfe geben: Nämlich ein Konzert des Baltic Sea Philharomic zu gehen. Dazu gibt es im November in NRW zweimal Gelegenheit: am 12. November in Mülheim und am 15. November in der Kölner Philharmonie. Bei diesen Live-Terminen steht die Wiederaufnahme einer nicht minder spektakulären Produktion auf dem Programm: „Nutcracker reimagined“ bezieht viele seiner Themen aus Tschaikowskis legendärer Ballett-Musik, sie bricht aber das Format einer „festen“ Komposition zugunsten einer stilübergreifend breitbandigen Mix-Struktur auf, in der musikalische Einflüsse aus diversen Musikkulturen der Welt lebendig aufeinander „reagieren“. Während das Baltic Sea Philharmonic seine Potenziale bei Babylon Berlin überzeugend in den Dienst eines konkreten Sujets stellt, portraitiert sich bei „Nutcracker reimagined“ diese „Band“ selbst, um für die eigene Vision zu werben. Beim Konzert in Köln ist übrigens die Weltklasse-Pianistin Olga Scheps für die Soloparts verantwortlich. Wen es vorher noch nach Berlin verschlagen sollte, kann noch aktuell noch Resttickets für eine weitere neue Produktion des Baltic Sea ergattern – Ships ist eine Komposition von Brian Eno, die auf der Musikbiennale Venedig uraufgeführt wurde – unter Beteiligung von Brian Eno selbst, dem Gitarristen Leo Abrahams, dem Software-Designer Peter Chilvers und dem Baltic Sea Philharmonic unter Kristjan Järvis musikalischer Gesamtleitung.

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